Arnold Vaatz erinnert sich an seinen Schmerz, als der Thüringer Schriftsteller 1977 die DDR verließ
Gründonnerstags läuft vor unseren geistigen Augen (meinen und denen meiner Frau) der gleiche Film ab: Ich gehe ans Telefon im Studentenwohnheim. Meine Frau ist dran. Sie fragt: „Was machst du?“ Ich: „Übungsaufgaben. Und du?“ Sie: „Radio hören! Tschüss!“ Ich renne in mein Zimmer, schalte den Deutschlandfunk ein und höre: „Der Schriftsteller Reiner Kunze hat heute am frühen Nachmittag … den Grenzübergang Rudolfstein passiert und ist in den Westen übergesiedelt.“
Es begann für nicht alle, aber für viele Abiturienten meines Jahrgangs mit einem schmalen Reclam- Gedichtband. Er war 1973 erschienen und hieß: „Brief mit blauem Siegel“. Sein Autor war ein gewisser Reiner Kunze aus Greiz. Gedichte waren für uns bis dahin Folter. Helmut Preißler, Louis Fürnberg, Johannes R. Becher – nach dem Motto „Sommer-Sonne-Wellenpracht- Badehose-Sowjetmacht“. Was aber Reiner Kunze schrieb, verschlug uns den Atem. Konnte man etwa neuerdings schreiben, was man dachte? Oder war’s Weltjugendfestivalfassade?
Im Buch war von einem Schüler der siebten Klasse die Rede, der eine Brille und Haare auf ein Bild von Lenin gemalt hat, dafür einen Tadel und einen Eintrag in den Schülerbogen erhält, der ihn nun sein Leben lang begleite. Von einer Staatsmacht also, die sich an 13-Jährigen austobt. Solche Texte hatten bisher nicht die geringste Chance, in der DDR gedruckt zu werden. Lehrer liefen Amok gegen ein in der DDR offiziell gedrucktes Buch. Eltern lieferten sich Wortgefechte bei Elternabenden. Kunzes Buch ging von Hand zu Hand. Im Handel war es im Nu vergriffen.
Aus der erhofften Freiheit wurde nichts. Als Reiner Kunze begann, Geschichten aus dem DDR-Alltag zu gestalten – poetisch, kompromisslos und wahrheitsgetreu – und dabei alle DDR-Denk und Sprechverbote ignorierte, hatte längst eine neue Eiszeit begonnen. Seine Geschichten erschienen dann unter dem Titel „Die wunderbaren Jahre“ im Sommer 1976 bei S. Fischer in Frankfurt/Main. Die Stasi zog blank. Reiner Kunze, seine Familie, seine Freunde wurden observiert, eingeschüchtert, bedroht. Bis ihm nichts mehr blieb, als zu gehen. Im Westen empfing ihn ein Literaturbetrieb, dem er nicht ins Weltbild passte.
Bei uns im Osten dagegen tickten die Schreibmaschinen. Eingeschmuggelte Exemplare seiner Bücher wurden hundertfach abgeschrieben und in Klemmheftern an Freunde weitergereicht. In einem Gedicht hieß es: „Wenn die Post hinters Fenster fährt, blühn die Eisblumen gelb.“ Dieses Gedicht erlebten wir von nun an selbst: Bis 1989 waren die wenigen nicht abgefangenen Briefe von ihm unser einziger Kontakt.
Reiner Kunzes Weg am Gründonnerstag 1977 folgten zwölf Jahre später, 1989, Hunderttausende. So „wunderbar“ war die DDR.